von Joachim Starbatty
Das Corona-Hilfspaket des jüngsten EU-Gipfels führt in die Schulden-Vergemeinschaftung.
Die Umverteilung kann letztlich die Inflation entfesseln.
Die Bürger sollten ihr Geld in Sicherheit bringen.
Der Gipfel zur Bewältigung der Corona-Krise war der längste in der Geschichte der Europäischen Union (EU). Es wurde gestritten und getrickst; aber schliesslich kam es doch zu dem erwarteten Happy End. Auch die Begleitmusik ist bekannt: Noch immer ist die EU aus Krisen gestärkt hervorgegangen; wir haben uns zusammengerauft, weil es zur EU keine Alternative gibt. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron nennt den Gipfel historisch, weil die EU endlich gemeinsame Schulden aufnehme und die daraus zufliessenden Mittel als echte Transfers an notleidende Mitgliedstaaten weiterreiche.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ihm gefolgt, weil sonst die EU ihrer Meinung nach auseinandergebrochen wäre. Sie meinte wohl die Euro-Zone, denn kein Mitgliedsland hätte den Schutzschirm der EU verlassen wollen. Die Euro-Zone stand dagegen vor einer Zerreissprobe, weil sie als politisches Kunstprodukt stabilitätsorientierte und überschuldete Mitgliedstaaten unter einem Dach vereint. Überschuldete Mitgliedstaaten wären wahrscheinlich überfordert gewesen, die Folgekosten im Zuge der Corona-Krise zu finanzieren.
Sie wären in Konkurs gegangen und hätten aus der Euro-Zone ausscheiden müssen.
Widerspruch der «sparsamen Fünf»
Weil man aber nicht bloss den Mitgliedsländern der Euro-Zone Hilfsmittel hätte zukommen lassen können, haben sich Macron und Merkel auf eine Gemeinschaftsanleihe in Höhe von 500 Milliarden Euro für die gesamte EU verständigt. Die Summe ist in Brüssel auf 750 Milliarden aufgestockt worden. In einer Reihe von Mitgliedstaaten, den sogenannten sparsamen Fünf (die Niederlande, Österreich, Dänemark, Schweden und schliesslich auch Finnland), erhob sich Widerspruch. Sie wollten den Einstieg in die Transferunion verhindern und sich von dem Tandem Macron/Merkel nicht
überfahren lassen.
Die Feststellung Hans-Olaf Henkels, früherer Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und späteres Mitglied des Europäischen Parlaments (EP), dass es nicht zu einem Einstieg in die Transferunion gekommen wäre, wenn Grossbritannien Mitglied der EU geblieben wäre, trifft ins Schwarze. Das belegt die Warnung Macrons an den renitenten niederländischen
Ministerpräsidenten Mark Rutte: Wer sich der reinen Kosten-Nutzen-Logik der Briten unterwerfe, müsse sich nicht wundern, wie Grossbritannien zu enden. Vielleicht haben es Macron und manch andere EU-Politiker nicht ungern gesehen, dass die Briten aus der EU ausgeschieden sind, weil die Deutschen ohne die Briten leichter zu führen sind.
Macron hat seit seiner programmatischen Europa- Rede an der Pariser Sorbonne-Universität (26. September 2017) systematisch auf eine Transferunion hingearbeitet. Angela Merkel ist ihm schliesslich auf diesem Wege gefolgt – entgegen dem Rat ihrer Experten. Erstaunlich ist, dass die Granden der CDU/CSU, obwohl sie sich sonst immer für eine stabilitätsorientierte Euro-Zone starkgemacht hatten, sie einfach haben gewähren lassen.
Gipfelbeobachter haben Macron und Merkel als ein einträchtiges Duo erlebt. Sogar den französischen Verhandlungstrick, eine Verhandlungsrunde abrupt zu verlassen, um die Verhandlungspartner unter Druck zu setzen, hat Merkel mitgemacht. «Wir bilden einen Block mit Kanzlerin Merkel», twitterte Macron aus Brüssel, als die Verhandlungen mit den «sparsamen Fünf» gerade stockten. Macron hat schliesslich die immer von Frankreich angestrebte Arbeitsteilung innerhalb der EU erreicht: Frankreich übernimmt die politische Führung, Deutschland macht es finanziell möglich.
Die von Macron und Merkel aus der Taufe gehobene Gemeinschaftsanleihe wird von der Kommission für die EU aufgenommen. Doch noch nie hat eine Konstruktion funktioniert, bei der die Eigenverantwortung ausgeschaltet ist, die einen über die Mittel verfügen und die anderen haften. Die Mitgliedstaaten beteiligen sich nach Massgabe ihrer Wirtschaftskraft an der Haftung. Auf Deutschland entfallen 200 Milliarden Euro. Erwartet wird, dass die Anleihe mit der höchsten Bonitätsstufe, «Triple A», bedacht wird, die aber nicht Griechenland oder Italien, sondern der internationalen Kreditwürdigkeit Deutschlands zu verdanken wäre. Die Gemeinschaftsanleihe entspricht dem Format der Eurobonds. Alle stabilitätsorientierten Länder hatten es bisher einhellig abgelehnt, gemeinschaftlich für Zinszahlung und Tilgung von Anleihen überschuldeter Mitgliedstaaten zu haften. Ihre Ablehnung war berechtigt. Nun lässt sich einwenden, die Gemeinschaftsanleihe
sei die Antwort auf die Corona-Krise, sie sei einmalig und die Mittel seien für alle EU-Mitgliedstaaten bestimmt. Aber das Format «gemeinschaftliche Haftung» ist nun einmal in der Welt und kann daher auch für andere finanzielle Notlagen herangezogen werden. Dafür spricht die Gepflogenheit in der Euro-Zone, dass sich die Mitgliedstaaten nicht am Recht, sondern an der jeweiligen politischen Opportunität orientieren. Was müssen wir tun, um die Euro-Zone zusammenzuhalten?, lautet die Devise. Daher sind eine zweite, eine dritte oder eine x-te Gemeinschaftsanleihe so sicher wie das Amen in der Kirche.
Auf dem Gipfel wurde um die Aufteilung der Mittel in Zuschüsse und Kredite gerungen. Macron und Merkel hatten 500 Milliarden Euro für Zuschüsse vorgesehen, die «sparsamen Fünf» bestanden auf Krediten. Schliesslich gaben sie nach, haben es aber nach intensivem Feilschen immerhin erreicht, dass die Zuschüsse bei 390 Milliarden Euro gedeckelt werden. Dem niederländischen Ministerpräsidenten war an einer Ziffer unter 400 Milliarden Euro gelegen. Damit er zu Hause etwas vorzuweisen habe, spottete Macron.
Die Auseinandersetzung um Zuschüsse oder Kredite ist ein Streit um des Kaisers Bart. Zuschüsse werden ohne Rückzahlungsverpflichtung gewährt, nicht aber Kredite. Dieser Unterschied verschwindet aber, wenn ein Land nicht in Konkurs gehen kann, sondern immer wieder finanziell aufgefangen wird. Wenn das der Fall ist, gibt es genügend Gründe, warum eine Rückzahlung politisch nicht opportun ist oder ökonomisch gerade nicht passt. Wir kennen das aus der Vergabe von Subventionen: Sie sollen eine Notlage überwinden helfen, sind aber dauerhaft, da die Empfänger sich nicht um Abhilfe bemühen und so weitere Zahlungen erzwingen. Zwar sind die Kredite an Auflagen gebunden – aber was will die EU-Kommission machen, wenn sie nicht eingehalten werden? Sie kann keine Polizei hinschicken, um für Ordnung zu sorgen.
«Ihr seid schuld»
Damit aus den Gipfel-Ergebnissen politische Realität wird, sind noch einige Hürden zu überwinden. Das Europäische Parlament kritisiert und nörgelt, und auch nationale Parlamente, die alle zustimmen müssen, werden einiges auszusetzen haben. Doch wird das EP zustimmen, wenn der eine oder andere Wunsch erfüllt ist. Die nationalen Parlamente werden es nicht wagen, mit Nein zu stimmen, weil der Vorwurf – «Ihr seid schuld am Zusammenbruch der EU» – jedes Sachargument zum Schweigen bringt.
Wenn wir die Ergebnisse des Gipfels zusammenfassen, so ist nach empirischen Erfahrungen und ökonomischer Logik der Einstieg in die Transferunion nicht die Trendwende in Richtung politischer und ökonomischer Gesundung, sondern das Abgleiten in eine soziale und ökonomische Lage, die jener des italienischen Mezzogiorno nahekommt. Und die gewaltigen Schulden – wann und wie werden sie zurückgezahlt? Das werden die stabilitätsorientierten Länder stemmen müssen. Deren Bevölkerungen werden sich schliesslich weigern, für die Verpflichtungen überschuldeter
Mitgliedstaaten geradezustehen. Die Regierungen werden sich schon aus Selbsterhaltungstrieb dem Willen ihrer Bürger beugen. Da die überschuldeten Mitgliedsländer nicht in Konkurs gehen sollen, bleibt nur die Finanzierung über die Notenpresse. Das ist bisher schon gemacht worden – über den Zwischenschritt «Sekundärmarkt». Wenn die Schulden wachsen und wachsen, die Staatsdefizite steigen und steigen, kann das Schamtuch «Sekundärmarkt» die monetäre Staatsfinanzierung immer weniger verhüllen. Letztlich ist jede grosse Inflation die Folge der Finanzierung
massiver Staatsdefizite. Den Bürgern ist nur zu raten: Bringt euer Geld in Sicherheit, solange es noch Zeit ist.
Joachim Starbatty ist emeritierter Ökonomieprofessor der Universität Tübingen. Von 2014 bis 2019 war er Mitglied des EU-Parlaments. Seit 1997 trat er mehrfach als Kläger vor dem Verfassungsgericht gegen die Einführung des Euro sowie Euro-Rettungsmassnahmen auf.
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