Carlos A. Gebauer

Lügen, weiß der Volksmund, haben kurze Beine. Denn kurze Beine tragen nicht weit. Die in diesem Sprichwort aufgehobene Lebensweisheit dürfte aus der Vormoderne stammen. Bis weit in unsere Zeit nämlich konnten sich Gerüchte, die unter der Woche gestreut wurden, nicht über die nächste Dorfversammlung hinaus halten. Wenn alle gemeinsam im Kreis um ihre Eiche saßen, wurde zwangsläufig auch allgemein offenkundig, ob das Gerede der letzten Tage stimmte: Der Förster war also doch gar nicht tot! Und der Knecht hatte sich kein Teufelsmal auf die Stirn tätowiert! Sie erschienen lebendig und unbemalt vor aller Augen. Die Gerüchteküche erkaltete sofort.

 

Das globale Dorf dagegen ist der ideale Nährboden für Gerüchte aller Art. Denn das Informationszeitalter ist wesentlich ein Zeitalter der Erzählung ohne Anschauung. Berichte aus allen Teilen der Welt jagen in Mikrosekunden um den Globus, doch zur allgemeinen Prüfung des Gesagten auf seinen Wahrheitsgehalt fehlt die rückversichernde Gesamtversammlung der Globaldorfbewohner. Der in maximale Übergröße gesteigerten Weltgemeinde fehlt die planetare Dorfeiche, unter der alle gemeinsam und gleichzeitig vor ihren eigenen Sinnen die bloße Erzählung und das Erzählte selbst gegeneinander abgleichen können.

 

An die Stelle des unmittelbaren eigenen Sinneseindrucks zur Wahrheitsprüfung ist daher das Gegeneinanderhalten verschiedener Informationsquellen getreten. Auf der Suche nach einem verlässlichen Abbild der Realität setzt man nun mehrere Erzählungen zueinander in Relation, um mit Hilfe von Plausibilitätserwägungen – bestenfalls ergänzt durch Angaben glaubwürdiger Gewährsmänner von vor Ort – dem, was ist, gedanklich näherzutreten. Auf diese Weise hat sich die Informationsgesellschaft von der Wissensgesellschaft wieder in eine Art Glaubensgemeinschaft verwandelt. Die einen sagen das eine – die anderen glauben das andere. Vor unseren Augen erstand nicht weniger als eine Weltbildinflation.

 

Ein Auszug aus einem Beitrag von Carlos A. Gebauer für die Zeitschrift eigentümlich frei. Hier weiterlesen.

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