Corona-Pandemie, Coronomics, Prof. Dr. Erich Weede

Im 20. Jahrhundert ist das Ausmaß der Staatstätigkeit gewaltig gewachsen. Am Anfang des Jahrhunderts lagen die Staatsquoten oft noch unter zehn Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung und überall im Westen unter 20, am Ende überall über 30, meist über 40 und zuweilen über 50 Prozent. Jedenfalls in Europa und vor allem seit dem Ende der Sowjet-Union kann man auch nicht mehr die Kosten der Kriegsvorbereitung oder Verteidigung für die Ausweitung der Staatstätigkeit verantwortlich machen.  Überall dominieren die Ausgaben für Soziales oder Umverteilung. Der Staat verfolgt zunehmend soziale Gerechtigkeitsziele. Im politischen Alltag bedeutet mehr Gerechtigkeit fast immer, dass die Bedürftigen mehr bekommen sollen und die Leistungsträger noch stärker belastet werden sollen. Selbst wenn das gelingt, implizieren derartige Maßnahmen eine Abschwächung der Leistungsanreize für Begünstigte und Opfer der Umverteilung. Das ist eine mit Sozialpolitik und Umverteilung notwendigerweise verbundene Nebenwirkung. Wo die sog. progressive Umverteilung nicht gelingt, es also zu arbiträrer oder gar regressiver Umverteilung kommt, ist es natürlich nicht besser. Unabhängig vom Verteilungsergebnis setzt das Bemühen um Verteilungsgerechtigkeit Anreize, sich im Kampf um Privilegien oder Renten zu engagieren statt in der Produktion nützlicher Güter oder Dienstleistungen.

Trotz steigender Staatseinnahmen neigen immer mehr demokratisch regierte Staaten zu immer mehr Schulden. Deutschland ist da eine partielle Ausnahme, weil in den letzten Jahren eine voraussichtlich nur vorübergehende Senkung der expliziten Staatsschulden gelungen ist. Außerdem sind die expliziten Staatsschulden nur eine Spitze des Eisbergs. Denn sogar in Deutschland läge die Schuldenquote des Staates über dem doppelten der Wirtschaftsleistung, wenn man die Versprechungen an Rentner, Pensionäre und künftig Erkrankende einbezöge. In manchen Ländern läge sie beim vier- oder fünffachen der jährlichen Wirtschaftsleistung. Das legt den Verdacht nahe, dass schon der Versuch, soziale Gerechtigkeit zu erzeugen, selbst eine Determinante von Ungerechtigkeit wird. Denn was ist gerecht daran, dass die heutigen Wähler den Wählern und Steuerzahlern von morgen Schulden aufzwingen dürfen?

Derselbe demokratische Staat, der sich zunehmend für eine ‚gerechte’ oder ‚soziale’ Versorgung von Menschen und Haushalten mit privaten Gütern verantwortlich fühlt, tut sich bei der Beschaffung öffentlicher Güter bzw. der Vermeidung öffentlicher Übel außerordentlich schwer. Das liegt zum Teil sicher daran, dass oft umstritten ist, wie man öffentliche Güter beschaffen oder öffentliche Übel beseitigen kann. Beispiel Frieden: Nicht jeder ist davon überzeugt, dass mehr Verteidigungsausgaben den Frieden sicherer machen können. Wer Verteidigungsbereitschaft für friedensfördernd hält, muss sich aber um die Verteidigungsbereitschaft fast aller europäischen Streitkräfte allergrößte Sorgen machen, ganz sicher um den Zustand der deutschen Bundeswehr. Beispiel Klima: Auch wenn viele Menschen immer mehr Hemmungen haben es zu sagen, ist nicht jeder davon überzeugt, dass wir mit dem Flatterstrom aus Wind und Sonne – also ohne grundlastfähige fossile oder nukleare Kraftwerke – allein die Energieversorgung sicher stellen können. Wer allerdings dem Weltklimarat oder dem Potsdam Institut für Klimafolgenforschung glaubt, der kann nicht den Eindruck haben, dass Deutschland oder die meisten anderen westlichen Demokratien der Vermeidung des Übels Klimawandel die Priorität vor sozialer Gerechtigkeit  einräumen. Im Alltag heißt das mehr Geld für Bedürftige im Inland (Grundrente, Mütterrente) und sogar darüber hinaus (Asylanten, Migranten). An dieser Stelle geht es mir nicht um die Diskussion der Eignung von bestimmten Mitteln, Ziele wie Klimaschutz oder Frieden zu sichern, sondern nur darum aufzuzeigen, dass westliche Staaten offenbar leichter Mittel für Umverteilungsziele und die Versorgung mit privaten Gütern und Dienstleistungen als für die Abwehr von kollektiven Übeln bereitstellen.

Das sieht in der gegenwärtigen, von einem Corona-Virus ausgelösten Krise wieder so aus. Bis Mitte März ist die Politik – ob in Deutschland, Großbritannien oder den USA – eher durch beruhigende Sprüche oder Verweise auf angeblich gut vorbereitete Gesundheitssysteme als durch tatkräftiges Handeln aufgefallen. Bei tatkräftiger Vorbereitung könnte man an Vorratshaltung von Mundschutz und Schutzanzügen vor allem für medizinisches Personal denken, an Vorräte von Beatmungsgeräten und den Aufbau von Testkapazitäten. Weder Deutschland noch Frankreich, weder Großbritannien noch die USA sind so gut auf die anrollende Krise vorbereitet wie Südkorea und Taiwan, obwohl der Westen durch die größere Entfernung vom zuerst betroffenen Land China eigentlich mehr Zeit als die Nachbarländer Chinas hatte, sich auf die Krise vorzubereiten. Das demokratisch regierte Taiwan hat eine ähnliche Bevölkerungszahl wie Nordrhein-Westfalen, ist wirtschaftlich sehr eng mit dem chinesischen Festland verbunden, hatte jedenfalls Ende März trotzdem viel weniger Infizierte, auch weniger Tote, als Nordrhein-Westfalen. Das ebenfalls demokratisch regierte Südkorea zeichnet sich durch besonders lebhaftes Testen der Bevölkerung aus und Beobachtung der Infizierten mit Hilfe moderner Informationstechnologie. Deshalb kann man zwar noch in Seoul, aber nicht mehr in Paris, Mailand oder Berlin zum Essen ausgehen. Von der Bevölkerungszahl her ist Südkorea fast mit Italien vergleichbar, aber nicht bei der Zahl der Infizierten oder Toten, obwohl die Volksrepublik China für das benachbarte Südkorea natürlich ein sehr viel wichtigerer Wirtschaftspartner als für Italien oder sonstige europäische Länder ist. Wer Südkorea und Taiwan als Maßstäbe akzeptiert, kann für den Westen nur flächendeckendes Staatsversagen feststellen.

Seit Mitte März – nebenbei: seitdem auch die Preise für Aktien an westlichen Börsen abstürzen – reagiert die Politik hektisch: mit der Vermehrung der Zahl der Intensivbetten in Krankenhäusern; mit Massnahmen zur Einschränkung sozialer Kontakte und damit notwendigerweise verbunden der  Wirtschaftstätigkeit, damit  die anrollende Infektionswelle nicht die Leistungsfähigkeit der Krankenhäuser so überfordert, wie es in Italien, Spanien und Ostfrankreich schon jetzt geschehen ist; mit mal mehr, aber auch oft weniger großzügigen Ausgleichsmaßnahmen für diejenigen, denen die Politik zwecks Eindämmung der Infektionen vorher die wirtschaftliche Lebensgrundlage entzogen hat. Hier soll nicht die Angemessenheit dieser oder jener Maßnahme diskutiert, sondern nur angemerkt werden, dass ein faktisches Verbot von wirtschaftlicher Tätigkeit und staatlicher Ausgleich offensichtlich zwei Seiten einer Medaille sind und auch sein sollten. Aber die Qualität der Reaktion der Politik auf die Pandemie hat Nebenwirkungen. Je nachdem, wie lange die Kontaktbeschränkungen und damit das Abschalten weiter Bereiche der wirtschaftlichen Tätigkeit andauern, sind leicht Verluste in der Größenordnung von 20  Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung denkbar.

Die Maßnahmen bei uns in Deutschland und ähnlich in vielen anderen westlichen Ländern haben natürlich wieder Umverteilungswirkungen, die vorab zu bestimmen teilweise schwierig ist. Die Politik wird sich zumindest bemühen, dem üblichen Muster zu folgen und die Leistungsstarken mehr als die Bedürftigen zu belasten, weshalb manche mit Zahlungen und andere nur mit Krediten gestützt werden. Ein Umverteilungseffekt steht allerdings jetzt schon fest, der von den Jungen zu den Alten (wie mir, einem 78-Jährigen). Der verschuldete Sozialstaat bleibt sich in der Umverteilung zwischen den Generationen treu. Denn mit steigendem Alter wird der Corona-Virus für die Infizierten immer gefährlicher. Begünstigt durch die Kontaktschranken und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Schäden werden die Alten. Die Jungen erben die dadurch vermutlich kräftig steigenden Staatsschulden. Sie leiden unter der dadurch oft unterbrochenen Ausbildung und künftig vielleicht verlorenen Arbeitsplätzen. Sie dürften zeitnah viel größere Einkommensverluste als Rentner und Pensionäre erleiden. Auf lange Sicht ist außerdem zu befürchten, dass die schnelle Ausweitung der Staatstätigkeit nur sehr langsam, wenn überhaupt wieder reduziert und die wirtschaftliche Freiheit wiederhergestellt wird. Auch das wird der nächsten Generation schaden.

Auf den ersten Blick sieht die Präferenz der deutschen und anderer westlicher Regierungen für die Bekämpfung der Pandemie zulasten von Wirtschaft und Wohlstand human und vernünftig aus. Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Denn die gegenwärtigen Maßnahmen kosten nicht nur Geld. Das Freihalten von Intensivbetten für Corona-Infizierte impliziert auch die Verschiebung von Operationen für andere Patientengruppen. Die Verschiebungen von chirurgischen Eingriffen kann das Leben der betroffenen Patienten gefährden. Eine letztlich arbiträre Umverteilung der Lebenschancen unter Kranken wird sich nicht vermeiden lassen. Je länger die Krise andauert, desto schwerwiegender wird das Problem. Die Volkswirtschaft wird nicht beliebig lange mit stark gedrosselter Kraft auch nur halbwegs funktionieren. Zunehmende Armut, psychische Störungen, Kriminalität und Suizide sind zu erwartende Folgen. Es stellt sich also die Frage, wann die in Deutschland seit Mitte März geltenden Freiheitsbeschränkungen wieder aufgehoben werden sollen.

Um hier plausible oder gar rationale Entscheidungen fällen zu können, müssten wir den Durchseuchungsgrad der Gesellschaft und damit die Nähe zur sog. Herdenimmunität kennen. Was wir haben sind Daten über die Sterblichkeit und die Zahl der Getesteten und Infizierten. Auch dabei gibt es noch Meß- und Interpretationsprobleme, die allerdings weniger erheblich sind als das Fehlen von Informationen darüber, welcher Anteil der Bevölkerung eines Landes infiziert ist oder war und damit gegen erneute Ansteckung (wahrscheinlich) immun ist. Dazu müssten in regelmäßigen und relativ kurzen zeitlichen Abständen repräsentative Bevölkerungsstichproben getestet werden. Bisher haben wir nur wenig belastbare und dafür stark variierende Schätzungen. Eine davon unterstellt, dass die Hälfte der italienischen Bevölkerung schon Ende März infiziert war und deshalb immun ist oder in Kürze sein wird. Falls das so wäre, dann könnte Italien noch in diesem Frühjahr die Herdenimmunität erreichen und damit wäre dort bald das Schlimmste vorüber. Aber weder in Italien noch in anderen westlichen Ländern werden bisher repräsentative Stichproben wiederholt gestestet, so dass die Politik im Blindflug die Steuerung der Volkswirtschaften übernehmen muss.

Wie der Corona-Virus ist auch dieses Informationsdefizit ein kollektives Übel. Wie lange kann das ohne riesige Kollateralschäden gut gehen? Oder kann unser Staat nur noch Fässer ohne Boden füllen, wie den Berliner Flughafen, den Stuttgarter Bahnhof oder den immer weiter expandierenden Sozialstaat? Unser Staat ist umtriebig, erlässt viele Gesetze und Regulierungen, erhebt munter Steuern, setzt sich große Ziele und war schon vor der Corona-Krise zur Einschränkung der wirtschaftlichen Freiheit bereit, aber wo es um negative Externalitäten oder die Abwehr kollektiver Übel geht, sind weder Deutschland noch die anderen westlichen Demokratien vorbildlich. In Ostasien allerdings gibt es Demokratien, von denen man gerade in dieser Krise lernen könnte, auch wenn nicht jede dort getroffene Maßnahme unbedenklich ist.

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