Sowohl in Europa als auch in den USA sind die Zinsen auf null gefallen und die Zentralbanken haben große Mengen Staatsanleihen gekauft. Trotzdem ist die Inflation gering. Für Jenet Yellen, ehemalige Präsidentin der US-Notenbank Fed, war das ein Rätsel. Mario Draghi stört sich daran nicht und verweist stolz auf historisch niedrige Inflation im Euroland, im Durchschnitt nur 1,7% seit 1999!
Viele Bürger sehen hingegen ihre Kaufkraft schwinden. Schon die Einführung des Euro (1999) hatte Skepsis geweckt. Die Beteuerungen des damaligen EZB-Chefvolkswirts Otmar Issing, die die Inflation würde objektiv messen, änderten daran wenig. Der „Teuro“ wurde 2002 zum Wort des Jahres gekürt. Deshalb wird die Inflationsangst der Deutschen Murphys Gesetz zugeschrieben: Preiserhöhungen sind schmerzhaft und werden deshalb bewusst wahrgenommen. Sinkende Preise nimmt man hingegen nonchalant mit.
Das Misstrauen der Deutschen ist trotzdem nicht grundlos. In den 1920er Jahren enteignete eine Hyperinflation die deutsche Mittelschicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte die Entwertung der Ersparnisse im Zuge der Währungsreform (1948) die Kriegsfinanzierung mit der Notenpresse sichtbar. In der DDR verhinderten staatlich kontrollierte Preise, dass die Subventionierung der defizitären Unternehmen durch die Notenbank die Preise nach oben trieb. Die versteckte Inflation äußerte sich in Warteschlangen und einer maroden Infrastruktur. Zur Wende verhinderte der Umtauschkurs von 1:1, dass die ostdeutschen Ersparnisse vernichtet wurden. Bezahlt wurde ab Mitte der 1990er Jahre durch Einschnitte bei den Lohnerhöhungen. All das zeigt, dass Inflation viele Gesichter hat.
Für den deutschen Konsumentenpreisindex erfasst das statistische Bundesamt monatlich die Preise von ca. 600 Waren- und Dienstleistungsarten. Dazu werden über 300.000 Einzelpreise in ganz Deutschland manuell und online erhoben. In diesem Warenkorb haben die Mieten einen Anteil von 32%, Verkehr 13%, Freizeit, Unterhaltung und Kultur 11%, Nahrungsmittel 10% usw. Der Warenkorb wird alle fünf Jahre dem sich ändernden Ausgabenverhalten angepasst.
Und es gab weitere Korrekturen. 1996 stellte die vom US-Senat beauftrage Boskin-Kommission für die USA fest, dass ohne Qualitätsbereinigung die Inflationsraten mit bis zu einem Prozentpunkt überschätzt würden. Da Sozialtransfers und Rentenzahlungen auf der Grundlage der offiziellen Inflationsraten angepasst werden, wurden hohe Kosten für den Staat festgestellt. Deshalb fanden Qualitätsverbesserungen in die Preismessung Einzug. Erhöht sich z.B. die Leistungsfähigkeit eines Computers, dann wird sein Preis im Index abgesenkt. Derzeit ist ca. ein Drittel des Warenkorbs der USA von dieser sogenannten hedonischen Preismessung betroffen (insbes. Kleidung, Elektrogeräte und Mieten). Im Eurogebiet wurde dieses Verfahren 2002 eingeführt; der Anteil der betroffenen Güter ist deutlich geringer.
Sinkt hingegen die Qualität von Gütern, korrigieren die Ämter die Preise nicht nach oben. Dies könnte bei Lebensmitteln bedeutend sind, bei denen billigere Zutaten (zuletzt Nutella) oder die Befüllung einer identischen Verpackung mit minderwertiger Qualität schwer messbar sind. Gleiches gilt, wenn im Restaurant die Portionen schrumpfen, ein kostenloser Parkplatz gebührenpflichtig wird oder die Bürger immer mehr selbst machen (Do it yourself!). Wenn Gebrauchsgüter wie Kleidung oder Einfamilienhäuser früher ersetzt oder repariert werden müssen, wird der daraus resultierende Verlust von Kaufkraft nicht gemessen.
In den USA berücksichtigt die sogenannte Kerninflation, dass die Preise von Lebensmitteln und Energie stark schwanken. Man denke an Benzin oder Spargel je nach Jahreszeit. Die Fed hat seit 2000 beide Produktkategorien aus dem Konsumentenpreisindex entfernt, um eine stabilere Zielgröße für ihre Entscheidungen zu haben. Da die Lebensmittel- und Energiepreise stärker als andere Preise gestiegen sind, ist seit 2000 der Kerninflationsindex mit 35% deutlich weniger gestiegen als der gesamte Index (46%).
Indem die Fed also die Kerninflation mit Qualitätsanpassung zu ihrem Ziel machte, konnte sie also mehr Geld drucken ohne ihr Inflationsziel von 2% zu verletzen. Die Internetseite Shadow Government Statistics veröffentlicht einen Preisindex für die USA, der vorgibt seit 1990 unverändert berechnet zu sein. Der Schatteninflationsindex ist pro Jahr durchschnittlich um 8,5% gestiegen, während die Kerninflationsrate nahe dem 2%-Zielwert lag. Das suggeriert, dass die geldpolitischen Entscheidungen sich nicht nach dem Inflationsziel richten, sondern lieber die Inflationsmessung dem Inflationsziel angepasst wird.
Ein weiterer Kaufkraftverlust ergibt sich für die Menschen, die Vermögen bilden wollen. Während in den 1970er Jahren Ausweitungen der Geldmenge noch die Preise an den Ladenkassen nach oben getrieben haben, wirken die Geldpolitiken seit den 1980er Jahren vermehrt auf die Finanzmärkte. In den USA ist seit 1990 der DOW Jones um durchschnittlich 9% pro Jahr gestiegen, der DAX um knapp 11%. Auch die Immobilienpreise sind stark gewachsen, in Deutschland seit 1999 um durchschnittlich 1,45% pro Jahr, seit 2008 aber deutlich schneller. Hingegen blieben die Mieten, die im Konsumentenpreisindex hoch gewichtet sind, stark reguliert. Der Anstieg war mit 1,2% pro Jahr seit 1999 moderat. Indem der Staat also die Mieten reguliert, kontrolliert er auch die offiziell gemessene Inflation.
Auch öffentliche Güter wie Straßen, Schulbildung, Forschung, Finanzmarktstabilität oder soziale Sicherheit sind nicht in den Preisindizes vertreten, weil sie keine Preise haben. Dennoch bezahlt der Bürger über Steuern und Abgaben. Die Staatsausgaben Deutschlands von 962 Milliarden Euro in Jahr 1998 auf 1446 Milliarden Euro im Jahr 2017, also durchschnittlich um 2,2% pro Jahr gestiegen. Über die Frage, ob sich auch Umfang und Qualität der öffentlichen Güter entsprechend verbessert haben, lässt sich streiten.
Zwar ist das Kindergeld gestiegen, die Zugstrecke München-Berlin ist schneller und das Elterngeld wurde eingeführt. Doch sind die Straßen löchrig, die Staus sind länger und die Pendlerzeiten wachsen. Kindergartenplätze sind Mangelware, Polizisten sind rarer und Einbrüche häufiger. Das Heer ist nicht mehr einsatzfähig. Während europäische Hauptstädte wie Paris, Stockholm oder Wien glänzen, wirkt weite Teile Berlins heruntergekommen.
Bei einigen öffentlichen Gütern werden die erstaunlichen Preissteigerungen sogar in der Tagesschau berichtet. Die Kosten des Neubaus der EZB sind während die vierjährigen Bauphase von 950 auf 1300 Millionen Euro gestiegen, also um 9% pro Jahr. Bei Elbphilharmonie und Berliner Flughafen ist die Inflation noch deutlicher. Der Grund ist eine „weiche Budgetrestriktion“: Die Staatsausgaben konnten so stark wachsen, weil die EZB Staatsanleihen kauft und deren Zinsen drückt. Für die Bürger ist die Restriktion härter: Die Löhne der Deutschen sind seit 1999 nur um durchschnittlich 1,8% pro Jahr gestiegen, bei fast gleichhoher Inflation.
Es ist deshalb nicht überraschend, dass aufgrund stagnierender Löhne, höhere Abgabenlasten sowie explodierender Aktien- und Immobilienpreise die Menschen bei den Gütern und Dienstleistungen des alltäglichen Bedarfs sparen. Aldi, Lidl, Primark und Co., die mit Hilfe der Globalisierung die Preise drücken, haben Hochkonjunktur. Die geringen gemessenen Inflationsraten sind deshalb heute vor allem Ausdruck der schwindenden Kaufkraft der Bürger.
Fazit: Der Konsumentenpreisindex misst die Veränderung des Preisniveaus für einen definierten Warenkorb im Zeitablauf und nicht – wie von den Notenbankern suggeriert – die Stabilität der Währung. Der Kaufkraftverlust der Bürger ist u.a. wie in der DDR in schlechterer Qualität von Gütern und Dienstleistungen versteckt. Der offiziell gemessene Preisindex dient übrigens auch zur Berechnung des realen Wachstums. (Das gut messbare nominale Sozialprodukt wird durch den Preisindex geteilt.) Das reale Wachstum wäre niedriger oder sogar negativ, wenn höhere Inflationsraten gemessen würden. Dann wäre es sichtbar, dass die Zentralbanken schon lange den Wohlstand der Bürger schmälern.
Kommentar verfassen