Prof. Dr. Erich Weede

Hans-Werner Sinn lehrte vor seiner Emeritierung an der Universität München und leitete viele Jahre das Ifo-Institut. Schon lange hält er es für seine Pflicht, Politiker und Wähler in vielen Büchern über gleichzeitig aktuelle und grundsätzliche wirtschaftliche Zusammenhänge und Probleme aufzuklären. Jetzt geht es um die Folgen der Geldpolitik der EZB und die Verschuldung der europäischen Staaten. Sinn ist in engagierter Verfechter der Einheit Europas, was aber nicht heißt, dass er jeden Schritt, den die Politik auf diesem Weg eingeschlagen hat, für richtig hält. Sinn befürwortet eine politische Union Europas und ein gemeinsames Militär. Hier hat sich die Politik bisher zurückgehalten. Stattdessen hat die Politik auf die von den USA ausgehende Finanzkrise, die Eurokrise oder die Defizite der Wettbewerbsfähigkeit der Mittelmeerländer und die Corona-Krise immer wieder mit denselben Maßnahmen reagiert: Steigerung der Staatsschulden und Vergrößerung der Zentralbankgeldmenge M0.

Die Eurokrise konnte gebändigt werden, weil Deutschland und andere solide Länder mit Targetkrediten und Hilfsprogrammen die schwächelnden EU-Länder unterstützten. Dabei betont Sinn, dass es dabei nicht nur um die Rettung von Ländern, sondern vor allem auch um die Rettung von deren Gläubigern ging, zu denen vor allem französische, aber auch anglo-amerikanische oder deutsche Banken gehörten. Im griechischen Falle mussten die Gläubiger über einen Schuldenschnitt allerdings doch noch beteiligt werden. Durch Wertpapierkäufe, vor allem von Staatspapieren, hat die EZB die Geldmenge M0 in den letzten 13 Jahren um den Faktor 6 bis 7 ausgeweitet. Mit der Null- und Negativzinspolitik hat die EZB den Staaten die weitere Verschuldung erlaubt. Verträge, Fiskalregeln und Schuldengrenzen wurden dabei gedehnt oder missachtet. Bei Verstößen gab es keine Sanktionen. Seit 2008 sind die Schulden der Euro-Staaten von 6,7 auf 11,4 Billionen gestiegen. Ungefähr drei Viertel des Zuwachses wurden von der EZB bzw. den Notenbanken des Euro-Raumes erworben. Die Schulden sollten jeden beunruhigen, der nicht davon überzeugt ist, dass die Wachstumsrate der Eurozonen-Volkswirtschaften dauerhaft über den Zinsen liegen wird. Nach Piketty liegt die Wachstumsrate normalerweise sogar unter den Kapitalerträgen. Das Ergrauen vieler Eurozonen-Länder lässt eher abnehmende als stabile Wachstumsraten erwarten.

Das in der Eurozone noch schnellere Wachstum der Zentralbankgeldmenge M0 als in den USA wirft die Frage auf, warum es nicht schon vor 2021 zu mehr Inflation der Verbraucherpreise gekommen ist. Das liegt im Wesentlichen daran, dass zwar die Geldbasis wesentlich breiter geworden ist, andere für inflationäre Entwicklungen direkter relevante Geldaggregate – wie M1 bis M3 – aber wesentlich weniger angestiegen sind, weil die EZB zwar mit ihrer Geldpolitik die Kreditvergabe und Wirtschaftstätigkeit anregen wollte, das aber in Anbetracht der Neigung zum Horten von Geld bei Nullzinsen nicht erreichen konnte. Erst wenn die Banken ihre Geldhorte in Kredite verwandeln und dabei aus dem Nichts viel zusätzliches Giralgeld schaffen, wird die Inflation in Gang kommen. Sinn vergleicht die aufgeblähte Zentralbankgeldmenge mit einem Pulverfass und die Inflation mit dem Feuer. Es fehlt noch der Zünder.

Vor der Antwort darauf untersucht Sinn noch die Frage, warum die EZB so lange etwas versucht hat, was sie weder kann noch tun sollte, nämlich ein Inflationsziel von 2 Prozent anzupeilen. Die plausibelste Antwort findet er in den Mehrheitsverhältnissen im EZB-Rat, wo die mediterranen Länder das Übergewicht über die nördlichen Länder mit solideren Staatsfinanzen haben, und in einer Politik die deren Interessen dient.  Unterschiedliche Erträge der Staatanleihen im Euroraum werden unterdrückt, sodass selbst das hoch verschuldete Griechenland sich heute wegen der OMT-Kreditausfallversicherung der EZB günstiger als die USA finanzieren kann. Die EZB-Politik dient der Erhaltung des Euroraumes und nimmt dabei riesige Verteilungswirkungen in Kauf. Sinn schätzt, dass die Südländer ungefähr 650 Milliarden an Zinsen sparen konnten.  Leidtragende sind vor allem die Sparer der nördlichen Länder. Weil die hoch verschuldeten südlichen Euroländer steigende Zinsen ihrer Staatsanleihen nicht vertragen, ist kaum damit zu rechnen, dass der EZB-Rat durch Rückverkauf der Staatspapiere M0 in absehbarer Zeit reduziert und damit eine potenzielle Inflationsgefahr reduziert.

Sinn denkt an folgende Inflationszünder: In der Corona-Krise haben die westlichen Staaten durch Transfers an Bürger und Subventionen an Unternehmen die Nachfrage stabilisiert, aber durch Lockdowns ist es überall auf der Welt zu Angebotsausfällen und Lieferschwierigkeiten gekommen. Das erzeugt Preisdruck, der sich bisher stärker in den steigenden Erzeugerpreisen als in den ebenfalls schon steigenden Verbraucherpreisen zeigt. Weitere potenzielle Inflationszünder sind die Alterungsprozesse und die Energie- und Klimapolitik.  Sinn hat Zweifel daran, dass die europäische Energiepolitik viel für das Klima erreicht, aber er sieht eine Kostenlawine auf uns zukommen, die auch inflationäre Wirkung haben könnte.

Sinns Buch ist gut lesbar, aber beunruhigend. Die Darstellung ist detailliert. Es ist unmöglich, die Vielfalt der Argumente in einer kurzen Besprechung auch nur anzudeuten. Hier soll noch darauf hingewiesen werden, dass er auch die Einschränkung der Bargeldverwendung und den digitalen Euro diskutiert. Man sollte das Buch unbedingt und bald lesen.

ERICH WEEDE

Hans-Werner Sinn: Die wundersame Geldvermehrung. Staatsverschuldung, Negativzinsen, Inflation. Freiburg im Breigau: Herder 2021, 429 Seiten,  28,- Euro.

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