Corona-Pandemie, Coronomics

von ERICH WEEDE

 

Deutschland hat nur die Wahl, seine Staatsschuldenquote dem lateineuropäischen Niveau anzunähern oder andauerndem Umverteilungsdruck in der EU ausgesetzt zu sein. Es sei denn, man gibt zu, dass der Euro zu einem Negativsummenspiel geworden ist und arbeitet an der Korrektur der falschen währungspolitischen Weichenstellung.

 

Nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern folgte auf die Pandemie die Lahmlegung ganzer Volkswirtschaften und jetzt der Versuch der Heilung der dabei aufgetretenen Schäden durch steigende Staatsausgaben und steigende Staatsschulden. Als kurzfristige Massnahme ist das kaum umstritten, mittel- und langfristig aber schon. Ökonomen streiten darüber, ob eine Steigerung der Staatsverschuldung ein Übel oder unter den gegenwärtigen, nicht erst durch die Pandemie hervorgerufenen Bedingungen schwacher Nachfrage nach Investitionskapital eher eine Notwendigkeit ist, wie Carl Christian von Weizsäcker schon lange behauptet. Diese positive Bewertung steigender Staatsverschuldung hat sich bisher weder in der Wirtschaftswissenschaft noch in der politisch interessierten Öffentlichkeit wirklich durchgesetzt. Mit Hans-Werner Sinn kann man sich auch fragen, ob die Staatsfanzierung durch die Druckerpresse sowohl in der Eurokrise als auch jetzt wieder in der Pandemiepolitikfolgenkrise wirklich auf Dauer ohne inflationäre Folgen bleiben wird. Zu der Frage, ob zunehmende Staatsverschuldung grundsätzlich wünschenswert ist oder nicht, soll hier nicht Stellung bezogen werden.

Weil allerdings die unten folgenden Überlegungen jedenfalls auf den ersten Blick für mehr deutsche Staatsverschuldung sprechen, sollen grundsätzliche Bedenken wenigstens genannt werden: Erstens sollte man in Anbetracht der ökonomischen Theorie des Staates, die sich weigert, Politikern mehr Altruismus oder Weisheit als Unternehmern zuzuschreiben, immer von Zweifeln an der Leistungsfähigkeit von Staat und Politik geplagt sein. Zweitens gibt es die beunruhigende, wenn auch in der Interpretation umstrittene Korrelation zwischen höheren Staatsschuldenquoten und weniger Wachstum, auf die vor Jahren Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff hingewiesen hatten. Wenn wir in Deutschland frei wären, ohne internationale Rücksichtnahme das Ausmaß der Staatsverschuldung zu wählen, müsste man sich nicht unbedingt dazu durchringen, eine Steigerung der Staatsverschuldung zu empfehlen. Aber wir leben nicht in einer Welt, in der das internationale Umfeld nur geringen Einfluss hat oder von uns wesentlich gestaltet werden kann. Selbst wenn grundsätzlich überall weniger Staatsschulden wünschenswert sind, könnte mehr Verschuldung unter den real existierenden Bedingungen das kleinere Übel für Deutschland werden.

In den meisten westlichen Demokratien zeichnet sich die Staatsverschuldung seit längerer Zeit durch dynamisches Wachstum aus. Es gibt zwar Länder, wie Estland, die ihre Schulden besser als wir im Griff haben, aber das Gewicht solcher Länder ist zu gering, um das internationale Umfeld zu prägen. Unter den größeren westlichen Ländern ist Deutschland eine Ausnahme, weil es in wenigen Jahren vor der Pandemie gelungen ist, die Staatsschuldenquote um ca. 20% zu senken. Was bedeutet dieser Konsolidierungserfolg? Unsere Politiker weisen darauf hin, dass wir uns deshalb in der Pandemie- und Lockdown-Krise mehr als andere kräftige staatliche Maßnahmen zur Stützung nicht nur von Arbeitnehmern, sondern auch von Unternehmen erlauben können. Einleuchtend. Ausländische Beobachter, wie der Economist, weisen darauf hin, dass Deutschlands besondere Fähigkeit seine Unternehmen zu stützen verglichen mit der geringeren Fähigkeit dazu anderswo den Wettbewerb zwischen deutschen und vielen anderen Unternehmen in der EU verzerren muss und damit künftige Divergenzen zwischen Deutschland und einigen Nachbarländern in ähnlicher Lage einerseits und Lateineuropa andererseits provoziert. Auch dieser Hinweis ist einleuchtend und legt die Folgerung nahe, dass weit auseinander liegende Staatsschuldenquoten – die italienische ist mehr als doppelt so hoch wie die deutsche – in der EU an sich ein Problem sind.

Die Leistungsfähigkeit des deutschen Steuerstaates und die Leistungsschwäche nicht nur des italienischen, sondern auch vieler anderer europäischer Steuerstaaten, muss Deutschland immer wieder unter Umverteilungsdruck zugunsten anderer Staaten setzen. Zwar sind die Privatvermögen der Individuen oder Haushalte in Italien höher als in Deutschland, aber zwischenstaatlicher Umverteilungsdruck wird dadurch nicht abgefangen, sondern resultiert offenbar ausschließlich aus dem Unterschied in der fiskalischen Leistungsfähigkeit, der an einer niedrigen Staatsschuldenquote abgelesen wird. In einem gewissen Ausmaß können fiskalisch solide Länder dem Umverteilungsdruck nachgeben, aber irgendwann gerät dadurch die Legitimität der EU in den Geberländern der Umverteilung unter Druck. In den Empfängerländern der Umverteilung ist diese Legitimität ohnehin unter Druck, weil die Transfers in der Höhe tendenziell immer enttäuschend und noch dazu mit Auflagen verbunden sind, die nicht zur staatlichen Souveränität der Empfängerländer passen. Mit anderen Worten: Sowohl die unterschiedliche fiskalische Leistungsfähigkeit als auch Umverteilung zwischen den Staaten gefährden auf Dauer die EU. Deshalb muss Konvergenz der Staatsschuldenquoten angestrebt werden. Für Lateineuropa bedeutet das Senkung, für Deutschland und einige Nachbarländer impliziert das Steigerung der Staatsschuldenquote. Wie die Erfahrung der letzten Jahre lehrt, ist allerdings die Steigerung der Staatsschulden wesentlich leichter als deren Reduzierung.

Wir sind nun mal in der EU und in der Eurozone. Noch gibt es keine starken Bestrebungen das zu ändern. In einer Zeit drohender Handelskriege zwischen einer aufsteigenden und einer herausgeforderten Weltmacht, gibt es keinen vernünftigen Grund, warum export-abhängige Volkswirtschaften, wie Deutschland, auch noch den europäischen Binnenmarkt gefährden sollten.  Damit stellt sich die Frage, wie Deutschland in der EU, die wir haben und die nun mal seit dem Ausscheiden der Briten von den Lateineuropäern dominiert wird, unsere Interessen noch wahrnehmen können. Es ist zu befürchten, dass wir die Staatsschuldenquote nicht nur vorübergehend wegen der Pandemie anheben müssen, sondern dauerhaft, um den Abstand zum lateineuropäischen Schuldenniveau nicht allzu groß werden zu lassen. Das ist der Preis, denn wir für den Binnenmarkt und die Erhaltung des europäischen Integrationsniveaus zahlen müssen. Zum Trost: Bei der Förderung von Digitalisierung und Forschung, bei der Reparatur maroder Brücken und Straßen findet man Gelegenheiten für sinnvolle Staatsausgaben.

Weil Deutschland auf den ersten Blick nur die Wahl zwischen einer Ausweitung der Transferunion und einer Erhöhung seiner eigenen Staatsschuldenquote hat, ergibt sich die Notwendigkeit eines zweiten Blicks auf unsere Lage. Wenn man sich die Entwicklung der deutschen Staatsausgaben in den letzten Jahren ansieht, muss man befürchten, dass eine Steigerung der Staatsausgaben und Staatsschulden nicht in erster Linie den Zukunftsinvestitionen, sondern dem weiteren Ausbau des Sozialstaates zugute kommt, der in ergrauenden Gesellschaften ohnehin immer schwerer finanzierbar wird. Lange bevor das Experiment mit einer gemeinsamen europäischen Währung begann, erkannte Friedrich August von Hayek schon ein damit notwendigerweise verbundenes Problem. In einer Währungsunion leidet man nicht mehr nur unter den Fehlern seiner eigenen Regierung – das ist für jeden freiheitlich gesinnten Menschen schon schlimm genug –  sondern man leidet zusätzlich auch noch unter den Fehlern der Regierungen der Partnerländer der Währungsunion. Weil auch demokratisch gewählte Regierungen noch Fehler machen, weil mit zunehmender Macht die Bereitschaft zur Fehlerkorrektur eher sinkt als steigt, weil auch die Abwahl der leitenden Amtsinhaber auf europäischer Ebene soviel komplizierter und schwieriger als auf nationalstaatlicher Ebene ist, ist das ein Problem. Das wird auch dadurch nicht gemildert, dass die Fachleute für  Wirtschaft und Politik oft nicht darüber einig sind, was richtig oder wünschenswert ist.

Wenn die Mitgliedschaft in der Währungsunion uns also dazu zwingt, entweder unsere Staatsschuldenquote zu erhöhen oder immer wieder unter zwischenstaatlichen Umverteilungsdruck gesetzt zu werden, dann muss über den Nutzen der Währungsunion erneut nachgedacht werden. Außerdem hat Roland Vaubel mehrfach darauf hingewiesen, dass der Wert der wirtschaftlichen Freiheit in Frankreich weniger als anderswo hoch gehalten wird. Wer in der wirtschaftlichen Freiheit einen Wachstumsmotor sieht, was sich auch ökonometrisch belegen lässt, muss die sich abzeichnende Dominanz Frankreichs als Sprecher der Lateineuropäer in der EU und in der Währungsunion mit Sorge betrachten. Der Euro ist nicht nur für Deutschland ein Problem, sondern mehr noch für die südliche Peripherie der Eurozone oder Lateineuropa. Sogar Frankreich selbst leidet darunter, dass der Außenwert des Euros zwar der deutschen Exportindustrie hilft, aber schon für Frankreich recht hoch ist. Für Lateineuropa wäre eine Abwertung gegenüber Deutschland eine Chance, wieder wettbewerbsfähiger zu werden. Mit der gleichzeitigen Einführung von Parallelwährungen in vielen oder gar allen Ländern ist der Weg der Korrektur des währungspolitischen Experiments auch schon angedacht. Zugegeben, das wäre für die europäische Integration ein Rückschritt. Aber es wäre auch eine Fehlerkorrektur.

Wenn vergangene Grundsatzentscheidungen, wie die Währungsunion, als unfehlbar oder zumindest unkorrigierbar gelten, dann gibt es keine Alternative zu einer Schulden- und Transferunion, wobei wir dann nur noch die beschränkte Wahl zwischen mehr Schulden und mehr Transfers haben und die Nutzung der Druckerpresse in Anbetracht des lateineuropäischen Gewichts in den EZB-Gremien schon alternativlos ist. Dann sollte man nicht in erster Linie befürchten, dass vielleicht manche Länder andere ausbeuten. Schlimmeres als ein Nullsummenspiel ist denkbar: Die Verlierer verlieren viel, die Gewinner der Umverteilung gewinnen wenig, fast nichts oder verlieren selbst auch noch. Politiker, die von ‚win-win’ reden, können trotzdem das Gegenteil erreichen.

Bei jedem Versuch der Korrektur ist zu berücksichtigen, dass die europäische Integrationsgeschichte zwar nicht perfekt ist, aber dennoch enorme Vorzüge hat. Erstens kann kein vernünftiger Mensch eine Fortsetzung der europäischen Bruderkriege wünschen, die es vor dem Weg in die Integration allzu oft gegeben hat. Zweitens ist auch der Binnenmarkt eine Errungenschaft. Schon Adam Smith hatte erkannt, dass das Ausmaß der Arbeitsteilung und der daraus folgenden Produktivitätsgewinne eine Funktion der Größe des Marktes ist. Gerade in einer Zeit drohender Handelskriege und einer dadurch geförderten Deglobalisierung wird die Erhaltung des europäischen Binnenmarktes umso wichtiger. Der Binnenmarkt hat aber schon vor dem Euro funktioniert und könnte es auch nach Einführung von Parallelwährungen, die Lateineuropa und Griechenland erlauben, durch Abwertung endlich wieder wettbewerbsfähig zu werden.

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